Unser aktueller Buchtipp

 

Alphonse Karr

Reise um meinen Garten


Briefroman, Andere Bibliothek 2020, 436 Seiten, 24,--Euro

 

 

Einfach mal genau hinsehen

Dieses Buch ist eine Ode ans Daheim bleiben – Urlaub auf Balkonien, wenn man so will. Eine Aufforderung in der eigenen Umgebung mit weit geöffneten Sinnen aufzunehmen, was einem begegnet. Den ersten Impuls lieferte dabei der Nachbar des Autors, der auf Reisen in die Welt aufbricht. Der vielseitige französische Romancier, Journalist, Theaterkritiker, Fischer, Blumenhändler (…) Alphonse Karr verfasste 1845 seinen Briefroman „Reise um meinen Garten“ mit Briefen an den besagten Reisenden. In den Texten dringt er mit seinen Beobachtungen in den Mikrokosmos seiner direkten Umgebung ein und beschreibt diese mit der Präzision eines erfahrenen Malers, der seine Pinselstriche in voller Bewusstheit setzt. Man wünscht sich bei der Lektüre, dass einem zu Schulzeiten die Natur vor der Haustür so bildhaft und spannend illustriert worden wäre. Was mit dem Neid des Zurückgelassenen begann, mündete in eine Sammlung voller philosophischer und gesellschaftsrelevanter Texte, Naturbeobachtungen, Parabeln, Anekdoten. Wahrscheinlich eine der sinnlichsten Wege Konsumkritik zu betreiben und eine Motivation zu bieten mehr zu sein als haben zu wollen - vor allem in Zeiten des Klimawandels und zahlreicher politischer Konflikte. Karr war in vielen weiteren Themen seiner Zeit voraus: In seine Briefe verwebt er Kritik am Hochmut gegenüber Armen, Frauen und Menschen anderer Herkunft – in einem Brief empört er sich über die von den Kolonialmächten befeuerte Exotisierung der besetzten und begafften Völker.
2020 wurde der Text in einer wunderschön illustrierten Ausgabe in der Anderen Bibliothek neu aufgelegt.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Olga Tokarczuk

Empusion

Roman, Kampa Verlag 2023, 384 Seiten, 26,--Euro

 

 

Männer unter sich

Der junge Ingenieursstudent aus Lemberg Mieczyslaw Wojnicz reist anlässlich einer Tuberkuloseerkrankung in den Kurort Görbersdorf in Niederschlesien. Es ist Herbst des Jahres 1913 und das Setting erinnert an Thomas Manns Zauberberg. Da ihn das Kurhaus selbst nicht beherbergen kann, kommt er zunächst in einem „Gästehaus für Herren“ unter. Die dort untergebrachten Herren treffen sich gern auf ein Gläschen regionalen Likörs, genannt „Schwärmerei“, oder diverse gemeinsame Ausflüge. Dort werden sämtliche Themen, die den Herren unter den Nägeln brennen diskutiert. Spekulationen über einen baldigen Krieg vermengen sich mit kommunistischen, anarchistischen, aber auch nationalistischen und antisemitischen Theorien. Männlichkeit ist eines der Attribute, die jeden Herrn auszeichnen soll – was genau das bedeutet: Auch das wird bei diesen Runden lebhaft besprochen. Und natürlich Frauen – Frauen und deren scheinbar besondere physische und psychische Verfassung. Jedes Gespräch, so scheint es Wojnicz, mündet schließlich in dieses Thema. Dabei werden nicht nur bekannte Theorien aufgetischt, sondern die skurrilsten Mythen ausgegraben. Überhaupt hat der Ort etwas unbehaglich verwunschenes an sich, und dass sich die Frau des Hauswirts bereits am Abend des ersten Tages erhängt, sorgt bei Wojnicz nicht gerade für Behaglichkeit. Wojnicz, der irgendwie nicht so recht ins Bild der typischen Männlichkeit passen will, gerät zwischen den geselligen Stunden ins Grübeln. Zu der Selbstmörderin entwickelt er eine ganz eigene Beziehung. Sie ist jedoch nicht die einzige Tote, denn in den Bergen geschehen regelmäßig äußerst mysteriöse Todesfälle und schon bald schwebt der Protagonist in Lebensgefahr.
Ein emanzipierter, spannender Entwicklungsroman, eingebettet in eine kluge, feministische Schauergeschichte, mit erstaunlichen Hintergründen.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Christina Hug

Unser Haus

 

Roman, Zytglogge Verlag 2023, 230 Seiten, 29,--Euro

 

 

Außer Kontrolle

Paul könnte nicht frustrierter sein: Nicht nur, dass er Schule sowieso ätzend findet. Nun muss er sein letztes Schuljahr wiederholen, also eine Ehrenrunde drehen, während alle seine Freunde von dannen ziehen, um zu reisen oder zu studieren. Doch dann gibt es da dieses leerstehende Geschäftsgebäude in der Züricher Innenstadt und kurzerhand schließt er sich einer kleinen Gruppe von Hausbesetzer*innen an und kapert mit ihnen gemeinsam die Räumlichkeiten. Während es für Paul die erst Hausbesetzung ist, die ihm beim hoffentlich unbemerkten Einsteigen Adrenalin und Herzrasen verpasst, ist Lucas der Erfahrene, der in aller Ruhe und nüchtern die nötigen rechtlichen Schritte in die Wege leitet. Auch für das ältere Hippie-Pärchen, das sich bald dazu gesellt, ist das nicht die erste Besetzung. Hier soll Wohnraum entstehen, für alle die es nötig haben, Konzerte und Ausstellungen sollen stattfinden und vor allem soll alles gemeinsam und basisdemokratisch entschieden werden. Eine große Herausforderung, wenn immer mehr Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Prioritäten dazustoßen, die ansässige Straßengang auch mitmischen möchte und der wachsenden Gruppe Alltägliches vor die Füße fällt.
Eine aus dem Leben eines Jugendlichen gegriffene Geschichte über Freundschaft und Liebe. Ein tolles Gedankenexperiment über Demokratie und Anarchie, aber vor allem über das Zusammenhalten einer Gruppe. Und irgendwie ist das schon auch eine kleine Anleitung fürs Besetzen leerstehender Häuser. Ein Buch für junge Erwachsene, aber auch für Ältere, die sich mit nostalgischer Sehnsucht an ihre Jugend in den 2000ern erinnern wollen - die im Buch angeführte Musik tut dann ihr Übriges. Ein bisschen stolpert man über ein paar schwyzerdütsche Begriffe – doch vorsorglich befindet sich hinten im Buch ein Glossar mit den Wortbedeutungen.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Salman Rushdie

Viktory City

Roman, Penguin Verlag 2023, 416 Seiten, 26,--Euro

 

 

Eine Stadt wie von Zauberhand emporgewachsen

Pampa Kampanas Leben gerät aus den Fugen, als sie, selbst noch ein Kind, mitansehen muss, wie ihre Mutter und weitere Frauen bei einer Witwenverbrennung in Flammen aufgehen. Völlig verstört und in Tränen aufgelöst prasselt auf sie sogleich ein weiteres einschneidendes Ereignis ein: von einer Göttin wird sie auserkoren als göttliches Sprachrohr in einer patriarchalen Welt für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu sorgen. Ihre menschliche Gestalt soll sie dabei behalten. Ausgestattet mit magischen Fähigkeiten und einer ausgedehnten Lebenserwartung lässt sie aus Samenkörnern eine Stadt erwachsen und setzt zu deren Verwaltung zwei Brüder als Könige ein. Dies ist der Beginn der Geschichte der Stadt Bisnaga, Victory City, die wir heute als das südindische Hampi kennen. Wir befinden uns im 14. Jahrhundert und werden diese Stadt und Pampas Leben 250 Jahre lang und über mehrere Generationen hinweg begleiten. Bisnagas Geschichte nimmt ihren Lauf, Herrscher kommen und gehen, die Gesellschaft verändert sich; und gleich, was geschieht, Pampa Kampanas Schicksal ist untrennbar mit dieser Stadt verwoben.
Rushdie schafft mit seinem neuen Roman ein gewaltiges Epos, das Elemente der indischen Mythologie mit moderner Fantasy verwebt. Einen Roman, der die indische Götterwelt widerspiegelt, der indigenen Bevölkerung Indiens eine Stimme gibt und somit die Vielfalt dieser großen Nation betont und die Auswirkungen des Imperialismus anspricht. Auch für Menschen, die Indien kennen, gibt es hier einiges zu entdecken und Mosaiksteinchen, die Wissenslücken schließen und Aha-Effekte mit sich bringen. Eine fesselnde Geschichte, die Themen wie Frauenrechte, Gewalt, Gruppendynamiken und die „Entzauberung der Welt“ diskutiert und sich gleichzeitig so fließend und interessant liest, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Empfohlen von Saskia Jürgens

 

Dirk Kurbjuweit

Die Freiheit der Emma Herwegh

 

Roman, Hanser Verlag 2017, 333 Seiten, 23,--Euro

 

 

Zunächst eine Warnung: dies ist kein Heldenepos über den mutigen 1848er-Revolutionsführer Georg Herwegh und die an seiner Seite stehende tapfere Frau Emma, die mit ihrem Freiheitswillen allen Konventionen der Zeit trotzt. Nein, dieser wunderbare historische Roman zeichnet seine Figuren sehr differenziert mit ihren Licht- und Schattenseiten. Gerade der im 19.Jahrhundert überaus populäre , aber offenbar auch grenzenlos egozentrische Freiheitsdichter Georg Herwegh („Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“) muss hier viel von seinem heroischen Pathos lassen. Zu dreist waren seine unaufhörlichen Liebeseskapaden auf Kosten seiner Frau Emma, zu dilettantisch ausgeführt war sein Versuch, mit einer „Deutschen Demokratischen Legion“ im Jahre 1848 die Revolution vom französischen Exil aus im Großherzogtum Baden zu entfachen.
All dies wird in diesem Buch sehr anschaulich erzählt, und während sich dem Leser die Person Georg Herwegh immer weiter entfremdet, gewinnt das Leben seiner Frau Emma immer deutlichere Konturen. Wir lesen vom Kennenlernen der beiden Liebenden im vorrevolutionären Berlin, Georg bereits in ganz Deutschland wegen seiner Gedichte bejubelt und verfolgt, Emma die höhere Tochter aus sehr reichem Hause, aber mit unbändiger Freiheitssehnsucht. Wir erleben mit ihnen die Februarrevolution  1848 im in Paris. Wir nehmen mit den beiden am revolutionären Feldzug in Südbaden teil, der im Fiasko endet. Wir erfahren ungläubig staunend, welch aberwitzige Drei- und Vierecksverhältnisse  bereits in der damaligen Zeit ausgelebt werden konnten – und wir genießen die altersweisen Lebensschilderungen der 77jährigen Emma, die sie dem damals jungen Frank Wedekind im Pariser Exil gibt.
Dem Autor Dirk Kurbjuweit ist ein historischer Roman gelungen, der tief in das damalige Geschehen eintauchen lässt.  Wer sich für Hoffnung und Scheitern von Freiheitsbewegungen interessiert, soll dieses Buch unbedingt lesen!

Empfohlen von Wolfgang Kiekenap

Kurt Oesterle

Martha und ihre Söhne

 

Roman,  Klöpfer & Meyer Verlag, 180 S., 20 €

   

 

"Der Feind bringt euch die Freiheit!", stand auf dem Plakat, dass die Soldaten für alle gut sichtbar aufhängten, nachdem sie Marthas Dorf in Süddeutschland eingenommen hatten. Dass Deutschland den Krieg verlieren könnte, war für Martha nicht vorstellbar gewesen. Fassungslos ist sie - wie die meisten Bewohner ihres Ortes - durch die Niederlage gedemütigt und fühlt sich von den Siegern verspottet. Obwohl immer mehr Verbrechen des NS-Regimes ans Licht kommen, "...darunter etliche Taten, die bis vor Kurzem als Ruhmestaten gegolten hatten", sieht Martha bei sich weder Verantwortung für Krieg, Massenmord und Ausplünderung noch (Mit-)Schuld an dem begangenen Unrecht. Schließlich hatte sie persönlich niemanden gemordet oder gequält oder ans Messer geliefert. Sie war lediglich von der Richtigkeit ihres Denkens, Fühlens und Handelns überzeugt gewesen - und ist es noch immer. Aber Martha hat auch Angst vor der Rache der Sieger. Hatte ihr Vater nicht prophezeit: "Schafft es der Feind bis ins Dorf, bringt er alle um". Zur eigenen Sicherheit vernichtet sie alles, was sie als überzeugte NS-Anhängerin entlarven könnte, und sie verlässt in den ersten Wochen nach Kriegsende das elterliche Haus so selten wie möglich. Jedoch nehmen die Sieger keine Rache, ganz im Gegenteil: sie schenken Kindern Kaugummis und versuchen junge Menschen wie Martha in politischen Umerziehungskursen, sogenannten "Demokratiestunden" von der Falschheit des nationalsozialistischen Denkens zu überzeugen. Sie werben für Demokratie. Martha traut all dem nicht, hat sie sich doch nie unfrei gefühlt. Ebenso wenig sieht sie sich als Angehörige einer verführten Jugend, denn sie war immer "...voll und ganz einverstanden gewesen mit dem Regime und seinen Großtaten". Martha ist orientierungslos. "Die Zeit schien auf der Stelle zu treten, es gab weder Vergangenheit noch Zukunft. Es gab nur die immer gleiche Gegenwart der Besatzung und die Straferwartung." In Nächten voller Angst schmiedet Martha einen Plan, um dem Strafgericht zu entgehen: Sie will so schnell es geht ein Kind bekommen. So heiratet sie überstürzt Paule, einen Flüchtling aus "den verlorenen Ostgebieten des Reiches", den sie fast nicht kennt. Mit 22 Jahren ist Martha Mutter von zwei Söhnen und fühlt sich als solche einigermaßen sicher "vor der Rache der Sieger".

Kurt Oesterles Roman beginnt mit der sogenannten "Stunde Null. Er spannt den Erzählbogen von der Besatzungszeit bis zum staatlichen Wiederaufbau mit der 2. freien Wahl in der BRD. Unaufgeregt, distanziert aber empathisch zeichnet er den schwierigen Übergang zur Gründung der Demokratie nach. Er schildert in klaren Worten menschliche Verheerungen, die 12 Jahre Diktatur hinterlassen haben. In den Details der Familiengeschichte von Martha, Paule und ihren beiden Söhne Alfred und Helmut leuchtet Oesterle gesellschaftliche Seelenzustände in dieser für Deutschland entscheidenden Politik- und Zeitenwende aus. Nachvollziehbar und überzeugend weist er auf Traumata hin und macht deutlich, wie schwierig ihre Verarbeitung und Überwindung sein kann.

Empfohlen von Ralph Wagner

 

Wlodzimierz Nowak

Das Herz der Nation an der Bushaltestelle

Polnische Reportagen

 

Aus dem Polnischen von Joanna Manc

KLAK Verlag Berlin, 371 Seiten

€ 16,90

 

 

 

Die achtzehn in diesem Buch versammelten Reportagen sind zwischen 1996 und 2013 abseits der prosperierenden Zentren, in der polnischen Provinz entstanden, drei von ihnen haben Co-AutorInnen. Die Reportagen erzählen von den Schicksalen verschiedenster Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen. Was sie verbindet, ist, dass sie eindrücklich illustrieren, wie dramatisch sich das Leben in Polen nach der Wende von 1989 verändert hat, wie rasant sich die ökonomische Situation vieler Menschen verschlechtert hat. In einigen Reportagen kommen die Porträtierten in O-Ton zu Wort, in den anderen beschreiben Nowak und die anderen VerfasserInnen die Lebensumstände und den Alltag der Menschen. Das geschieht mit professioneller Distanz, ohne Wertung oder Anklage, aber immer mit deutlich spürbarer Empathie. In den Reportagen geht es immer auch um Grundsätzliches, wenn nicht Existenzielles. In schonungsloser Offenheit - auch sich selbst gegenüber - sprechen die Menschen von ihren Problemen, Sorgen und Wünschen und manchmal auch von Hoffnung. Manche sind verzweifelt oder resigniert, haben sich dem Alkohol ergeben oder versuchen als Kleinkriminelle über die Runden zu kommen. Andere wenden viel Energie für Kämpfe mit Behörden oder Unternehmen an, entwickeln Ideen und ergreifen Initiativen, wo staatliche Stellen versagen oder schlicht nicht mehr existieren.

Ich empfehle die Lektüre allen, die sich für Polen interessieren und gerne ausgezeichnete Reportagen lesen. Meine Empfehlung möchte ich mit einem Zitat aus dem Vorwort zu diesem Buch von Gesine Schwan unterstreichen: "Wer das Leben in Polen in manchen Regionen auf dem Lande und in weniger erfolgreichen sozialen Schichten unsentimental kennen lernen möchte, Menschen in ihrem Alltag mit ihren Sorgen, ihrem Realitätssinn, zugleich aber auch mit ihren anrührenden Träumen und ihrer bewundernswerten Energie, immer wieder neue Anläufe zu nehmen und trotz allem für ihr Leben ein wenig Sinn zu erhaschen - der sollte zu diesem Buch greifen."

empfohlen von Ralph Wagner

 

Vaddey Ratner

Im Schatten des Banyanbaums

 

Aus dem Englischen von Stephanie von Harrach

Roman, Unionsverlag 2014, 381 Seiten, 21,95 Euro

 

 

Am 17.4.1975 eroberten die "Roten Khmer" die kambodschanische Hauptstad Phnom Penh. Damit beendeten sie einen langjährigen Bürgerkrieg und proklamierten das "Demokratische Kampuchea". Unverzüglich begannen sie unter ihrem Führer Pol Pot damit, das Land nach ihren Vorstellungen umzugestalten - mit ungeahnten Konsequenzen und unvorstellbarer Gewalt. Um ihr Ziel zu verwirklichen, einen kommunistischen Agrarstaat ohne Geld und persönliches Eigentum, wurde die gesamte Bevölkerung Phnom Penhs innerhalb weniger Tage aus der Stadt vertrieben. Familien wurden systematisch auseinandergerissen, Beamtenschaft und Polizei, Akademiker, Intellektuelle und der buddhistische Klerus gnadenlos verfolgt, gefoltert und ermordet. Alle Menschen, die aus Sicht der Roten Khmer die alte Ordnung repräsentierten und nicht bereit waren, sich für die Verwirklichung der revolutionären Ziele den neuen Machthabern zur Verfügung zu stellen, wurden getötet. Städte wurden entvölkert, Verwaltungsgebäude, Schulen, Krankenhäuser und Tempel zerstört. Die Gewaltherrschaft der Roten Khmer dauerte bloß 4 Jahre und kostete nach Schätzungen nahezu 2 Millionen Menschen ihr Leben. Sie wurden Opfer der "Killing Fields", starben an unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern, verhungerten, wurden willkürlich exekutiert oder starben, weil es keinerlei medizinische Versorgung mehr gab.

Opferzahlen allein sind abstrakt. Das Grauen der begangenen Verbrechen, das erlittene Leid jedes Einzelnen, die Tragödie eines ganzen Volkes, das um ein Drittel seiner Menschen beraubt wurde, dies alles zu erfassen, gelingt nur in empathischen Schilderungen von Einzelschicksalen und individuellen Erinnerungen. Vaddey Ratners Roman "Im Schatten des Banyanbaums" ist ein Beispiel. Es ist ein gleichzeitig todtrauriges und poetisches Buch. Die Geschichte, die in wesentlichen Zügen ihre eigene ist, so erklärt die Autorin in einem kurzen, deshalb aber nicht weniger aufschlussreichen Nachwort, wird uns durch das Mädchen Raami erzählt. Die kindliche Erzählperspektive sorgt für eine besondere Eindringlichkeit des Textes. Der unverstellte Blick auf furchtbare Geschehnisse und ihre nüchternen Schilderungen stehen in seltsamem Kontrast mit wunderschönen Naturbeschreibungen. Ein Kind versucht zu verstehen, was auch Erwachsene nicht begreifen können. Mit Phantasie und den Erinnerungen an ihren geliebten Vater, aus denen Raami Kraft schöpft, schafft sie es, Leid und die Strapazen zu ertragen und alles zu überleben.

"Im Schatten des Banyanbaums" ist eine grausame Geschichte, die in wunderschönen Worten erzählt wird, eine Geschichte über menschliche Stärke und Leidensfähigkeit, über Mitgefühl und Überlebenswillen. Vaddey Ratner, deren vollständiger Name Neak Ang Mechas Ksatrey Sisowath Ratner Ayuravann Vaddey lautet, ist Spross der königlichen Familie Sinowath I. Fast ihre gesamte Familie wurde durch die Roten Khmer ausgelöscht. Die Autorin hat mit dem Schreiben dieses herausragenden Buches Großes geleistet, denn sie hat höchstwahrscheinlich nicht nur sich selbst von einigen Dämonen der Vergangenheit befreit, sondern auch für alle Opfer der unglaublichen Verbrechen der Roten Khmer ein literarisches Mahnmal geschaffen.

Empfohlen von Ralph Wagner

Bethan Roberts

Der Liebhaber meines Mannes

 

Aus dem Englischen von Astrid Gravert

Roman, Kunstmann 2013, 19,95 €

 

 

Patrick, nach mehreren Schlaganfällen ein hilfloser Pflegefall, hat höchstwahrscheinlich nicht mehr lange zu leben. Deshalb beschließt Marion, das Schweigen nach 40 Jahren zu brechen, um ihren Mann Tom zum Reden und zum Handeln zu bewegen.

 

In den 1950er Jahren beginnt alles damit, dass der Teenager Marion sich in den Bruder ihrer besten Freundin verliebt und sich vornimmt, ihn zu heiraten. Dass Tom ganz offensichtlich kein Interesse am weiblichen Geschlecht hat, übersieht sie geflissentlich. So fühlt Marion sich auch am Ziel ihrer Wünsche, als Tom ihr überraschenderweise einen Heirats-antrag macht. Schon kurze Zeit später heiraten sie. Leise Zweifel beschleichen die junge Frau, als die Hochzeitsnacht nicht ganz so verläuft, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber mit dem Wissen um ihre eigene und die vermutete Unerfahrenheit Toms in sexuellen Belangen, wischt sie auch das beiseite. Was sie nicht ahnt: Tom erlebt gerade sein schwules Coming Out. Er ist zutiefst verunsichert und auch besorgt. Vor wenigen Wochen hat er per Zufall den deutlich älteren Patrick kennen gelernt. Der ist gebildet, kultiviert, wohlhabend und arbeitet als Kurator im Museum in Brighton. Patrick ist von Tom hingerissen, der sich ebenfalls zu Patrick hingezogen fühlt. Doch diese Liebe kann nur heimlich gelebt werden: Homosexualität ist gesellschaftlich geächtet und steht unter Strafe; Homosexuelle werden öffentlich mit Verbrechern auf eine Stufe gestellt. Als auch Marion Toms sexuelle Neigung nicht mehr übersehen kann, entschließt sie sich zu einer folgenschweren Tat, die schlussendlich das Leben aller drei ruinieren wird.

 

Bethan Roberts lässt Marion als Erzählerin die Ereignisse reflektieren und schildert parallel auch Patricks Perspektive. Herausgekommen ist dabei ein einfühlsames, wunderbar zu lesendes Buch, das trotz der Ernsthaftigkeit des Themas durch seine Leichtigkeit besticht.

 

Erst vor wenigen Wochen übrigens hat das Britische Parlament den Weg für die Homosexuellen-Ehe frei gemacht.

Empfohlen von Ralph Wagner